Dies sind eure Definitionen, nicht meine

Eine frühere Fassung dieses Textes wurde unter dem Titel „Wann ist ein Mann ein Mann“ am 11. April 2018 im Polit-Magazin Kater Demos gedruckt.

„Nicht gefallen zu müssen, anderen mal nicht das zu zeigen, was sie sehen wollen. Sondern die Leute aus ihrer Komfortzone jagen, ihr Weltbild hinterfragen, das Erwartete zurückhalten und überfordern“, grölt Sylvester Alone in die überfüllte Neuköllner Bar hinein. Er erntet tosenden, non-binären Applaus von Drags, Queers und Unterstützer*innen dieser Botschaft: Mehr Radikalität in den politischen Forderungen, sonst passiert auch nichts!

Trans*Personen sind auf Rückhalt und Solidarität angewiesen. Sie sind wenige, sie haben keine Lobby, nirgends. Was man ihnen zugestand – vor immerhin 37 Jahren – war das deutsche Transsexuellengesetz, das heute nur noch rudimentär anwendbar ist und von Bundesrat und Bundesverfassungsgericht bruchstückweise kassiert wurde: Noch vor zehn Jahren wurden Verheiratete nach ihrer Transition zur Scheidung gezwungen, und bis 2011 wurden Betroffene mit Namensänderungswunsch erpresst, sich erst einmal operieren zu lassen, bevor Verwaltungsfachangestellte überhaupt darüber nachdenken, den Stempel in die Hand zu nehmen. Dieses Gesetz „schützt“ bis heute Trans*Personen vor sich selbst, statt Selbstbestimmung zu sichern. Weiterhin erleben jährlich Tausende die schikanierenden Hürden, die keinem nützen, aber dem Großteil großen Schaden zufügen. Im November 2017 wurde noch einmal nachgelegt und ein „drittes Geschlecht“ im deutschen Geburtenregister gefordert, der Ethikrat empfahl sogar einen völligen Verzicht der Geschlechterangabe im Personenstandsregister. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet erst seit 2018 Transsexualität wertfrei als „Geschlechter-Inkongruenz“ und befreit Trans* endlich von dem Stigma einer Krankheit.

Blickdiagnose für die Katz

Diskriminierung scheint bei der Personenstands- und Namensänderung unverzichtbar zum Selbstverständnis der politischen Mitte zu gehören. Auch die vorformulierte Zweigeschlechtlichkeit darf bis heute von keinen behördlichen Vordrucken verschwinden, und jede Aufforderung, sich mit der eigenen Identität auseinander setzen zu müssen, scheint der wenig gefestigten Mehrheit pure Angst einzujagen. Denn Diversität fordert Flexibilität.

Sylvester Alone hat diese Angst nicht, er ließ seine weibliche Identität hinter sich und trägt im Alltag den Namen Jan. „Noch vor drei Jahren war ich eine unscheinbare Studentin in Sachsen-Anhalt, die bewusst kurze Schritte tapste und von der Mutter ermahnt wurde, gerade zu sitzen. Dann der lange Blick in den Spiegel, das innere Coming Out vor mir selbst, schließlich vor meinem Partner, und nun bin ich Trans*Aktivist in Berlin. Sowas kann passieren, wenn man sich in Frage stellt. Aber erst, seit ich als Fremdling wahrgenommen werde, fühle ich mich nicht mehr wie einer.“

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Die Blickdiagnose ist bei Jan für die Katz, wechselndes Make-up und Unisex-Kleidung machen eine Geschlechterzuteilung unmöglich. Jan hilft seiner Umwelt nicht, ihn geschlechtlich zu kategorisieren, und das hat seinen Grund.  Fragen wie: Wann ist ein Mann ein Mann? „Nehmen wir an, du bekommst ein Kind mit Penis. Nun behaupte ich, dass die Hebamme nach der Geburt nicht sicher gestellt hat, ob das geschlechtsdefinierende XY-Chromosom vielleicht fehlt. Ob vielleicht Eierstöcke statt Hoden angelegt sind, oder ob das Baby androgen-resistent ist, also sein Testosteron gar nicht verarbeitet werden kann, und in der Pubertät die Brüste beginnen zu wachsen. Ich stelle das Geschlecht des Kindes im blauen Strampler genetisch, organisch und hormonell in Frage – denn laut Statistik ist Intersexualität bei einem von 400 Kindern der Fall.“ Die Wissenschaft schreitet voran, Identitäten wandern, und die binäre Welt bröckelt. Da hilft es auch nicht, dass Präsident Trump der US-Gesundheitsbehörde verbietet, das Wort „Transgender“ im Haushaltsplan 2018 zu erwähnen: Trans* ist ein Fakt, der sich nicht ändern lässt. Geändert werden kann nur der Rahmen für Kinder, ihre Familie und ihr Umfeld.

Trans* als politisches Handlungsfeld begreifen

Wie beschwerlich deren Leben in Deutschland aussehen wird, liegt vorwiegend noch immer an der deutschen Regierung. In der Union will man von dem Thema vorher noch nie gehört haben und legte nun zähneknirschend ihren überfälligen Gesetzesentwurf zum dritten, „diversen“ Geschlecht nach. Doch das ändert nichts am behördlichen Spießrutenlauf, den Jan bewusst meidet: „Niemand weiß, wieviel Prozent der Bevölkerung sich als Trans* identifiziert. Denn wer keine Vornamens- und Personenstandsänderung beantragt, wird statistisch gar nicht erst erfasst. Ich kenne Trans*Personen, die völlig auf Umgestaltung verzichten, andere wählen die Mastektomie, nehmen andersgeschlechtliche Hormone oder lassen sich komplett operieren, doch nur Wenige beugen sich diesem psycho-pathologisierenden Begutachtungszwang.“

Diese Unsichtbarkeit, diesen blinden Fleck in der Wähleranalyse, begreift Jan auch als Chance: „Die Notwendigkeit, den Trans*Komplex endlich als politisches Handlungsfeld zu begreifen, schafft Bewegung bei den Grünen, den Linken, den Liberalen und langsam auch bei den Sozialdemokraten.“ Doch nicht eine dieser Parteien würde derzeit die geschlechtliche Selbstbestimmung zur Koalitionsbedingung machen, wie jüngst die gleichgeschlechtliche Ehe. „Trans*Rechte halten der Kosten-Nutzen-Analyse keiner Partei stand. Am Ende gilt – bei den vermeintlich explodierenden Kosten – eine Beibehaltung des Status Quo eh als alternativlos.“ Dass nach Grünen-Berechnungen neue Trans*Regelungen den Staat, dem Bürger und der Wirtschaft exakt 0 Cent kosten würden, und Krankenkassen wie Gerichte in großem Maße entlastet würden, stieß bei der Union erwartungsgemäß auf taube Ohren. „Der Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht haben die Regierung wie oft schon gerügt? Merkel kann machen, wie es ihr beliebt.“ Solang Trans* als Krankheit gilt, verlangt das alte Gesetz weiterhin entwürdigende, kostspielige Gutachten – erst, wenn sich dies ändert, würde der Gang zum Standesamt genügen.

So ein nüchtern-unkomplizierter Verwaltungsakt war die Personenstandsänderung einer mexikanischen Sechsjährigen, und auch in Norwegen und Luxemburg ist es bereits Kindern überlassen, ihr Geschlecht zu bestimmen. Deutschland hingegen fällt im internationalen Vergleich eher durch das jahrzehntelang angesammelte Paragraphengestrüpp auf – aber immerhin lässt es sich hier friedlich und privilegiert leben. Jan baut auf einen Dominoeffekt: „Im letzten Jahrzehnt wuchs das Bewusstsein für Trans* ja erst langsam. Leitmedien und TV-Dokumentationen transportieren das Thema in die Wohnzimmer, Schulen bieten Queer-AGs an, und so baut sich nach und nach Solidarität auf. Die kleine Trans*Community bewegt sich, eckt an, behauptet sich und gewinnt international Beachtung dank sozialer Netzwerke. Es braucht Zeit, aber es wird der Moment kommen, da die zweigeschlechtliche Welt ihre selbstgesteckten Grenzen überwinden wird, in der endlich nicht mehr Transsexualität, sondern Transphobie als psychische Krankheit gelten wird.“

Jan

Portrait-Aufnahmen von Jan: Piotr Pietrus