Das Märchen vom Penis

Eine frühere Fassung dieses Textes wurde unter dem Titel „Wann ist ein Mann ein Mann“ am 11. April 2018 im Polit-Magazin Kater Demos gedruckt.

„Gefühlt jede zweite Lesbe in meinem Freundeskreis steckte plötzlich im Stimmbruch und ließ sich einen Bart wachsen“, erinnert sich Nic an die Zeit, in der er verständnislos zusah, wie eine stolze Butch nach der nächsten mit der Transition begann. Es waren sieben aufregende Jahre, in denen er mit den Kingz of Berlin auf der Bühne mit angespanntem Po in die Luft bumste und den Schweiß in die rasende Meute spritzte – doch bei Geschlechtsangleichung hörte es bei ihm auf. Weshalb sich das zuvor verurteilte Gender-Privileg des Mannes aneignen und in heterosexuelle Beziehungsmuster fallen? Ihm als trans*identem Queer genügte es, genderfluid zu sein und sich nicht selbst mit Etiketten der zweigeschlechtlichen Welt festzulegen, sondern seinen eigenen Weg zu gehen. Dachte er.

„Ich war Anfang Vierzig, hatte Haus, Frau, Katzen und einen super Job. Ich war angekommen.“ Bis ein Tumor von einemTag zum nächsten Nics Leben auf den Kopf und alles in Frage stellte, nicht zuletzt die eigene Zukunft mit all ihren Möglichkeiten. Psychosomatische Folgeerscheinungen blieben nicht aus, der Körper zwang ihm immer wieder existentielle Fragen auf. „Ich musste alles, was ich gedacht und gelebt hatte, bewusst loslassen. Die Furcht vor der Transition wurde schließlich kleiner als die Angst, weiterzuleben wie bisher. Wenn ich damals gewusst hätte, wie ich mich heute fühle, hätte ich es schon vor Jahrzehnten getan.“

Penoid-Aufbau ausgeschlossen

Doch vor Jahrzehnten lebte er in einem Frauenkörper. Als Vierjährige gab sich Nic den ersten männlichen Vornamen, mit 14 Jahren wurde mit krummem Buckel versucht, die großen Brüste zu verbergen, dann gründete er mit den Kingz of Berlin die erste Drag-King-Truppe Europas, und doch gab es die Sperre im Kopf, das Problem der empfundenen Körperdysphorie nicht zu verbalisieren, auch nicht vor sich selbst. Der Schock der Krankheit und die Angst vor Krebs ließen diese Scheuklappen fallen: Nic nahm seinen Mut zusammen und erkämpfte sich den Körper, den er ein Leben lang vermisst hatte. Ein erster, nicht verhandelbarer Schritt war die Mastektomie: „Ich wachte nach der Operation auf, blickte begeistert an meinem brustlosen Oberkörper hinunter und dachte: Na, der Bauch muss weg!“, grinst er.

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Nic (rechts) mit den Kingz of Berlin, dem Gender-Fuck-Phänomen zum Millennium (Bild: SIEGESSÄULE/Anja Weber)

Auch wenn er seinen Körper wie viele Trans*Männer als identitätsstiftend empfindet, stimmt Nic einem Penoid-Aufbau noch immer nicht zu: Zu häufig haben Patienten unter postoperativen Rückbildungen des Gewebes zu kämpfen, mit Nachblutungen und Wundheilungsstörungen. „Viele Trans*Personen leiden unter der körperlichen Abnormität. Und zwar nicht, weil sie trans* sind, sondern weil sie der Norm nicht entsprechen und ausgegrenzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass es ohne diese Art von Diskriminierung deutlich weniger Menschen geben würde, die sich überhaupt unters Messer legen würden.“

Selbst im seltenen Fall einer unkomplizierten Operation sei die Penetration unbequem und enervierend, was einen eigenen Penis als ultimativen Männlichkeitspokal in Frage stellt. Günstige Angebote von Privatkliniken sind zudem selten, da die Nachfrage nicht groß genug ist. Nic überlegt, sich eine Epithese von der Krankenkasse erstatten zu lassen, mit der es möglich wäre, das Sexleben um neue Spielarten zu erweitern. „Natürlich hätte ich mit einem Fingerschnips gern einen Penis, aber der Weg dorthin ist 2018 noch zu steinig, um ihn aufzunehmen. Außerdem geschieht Sex im Kopf: Mit einer stimulierten Klitoris, einem haptisch-identen Penisersatz, manuellen Bewegungen und einem mechanisch erzeugten Erguss – aus Maisstärke und Wasser – ist ein ‚männlicher’ Orgasmus erlebbar. Eine spielerische Optik unterstützt die Fantasie, und Fantasie führt zum Orgasmus. Nicht nur für Penismenschen.“

Bestenfalls Bonus Hole Boy

Gewappnet mit einem neuen Körpergefühl und einer Portion Neugier stürzte Nic mit neuer Haut in die Szene. „Es herrscht eine unausgesprochene Übereinkunft unter Schwulen. Für die bin ich ein ‚Neuer’, werde schlimmstenfalls ignoriert, und werde bestenfalls als ein Bonus Hole Boy angeflirtet. In dieser Männerwelt, in der weibliche Befindlichkeiten keine Rolle spielen, ist Sex sehr präsent, und Trans*Männer gelten als weiteres Toy im Spielzeugparadies.“ Die schnell wirkenden Testosteron-Injektionen haben sukzessive Nics Identitätsspektrum geöffnet, aber eben auch sein sexuelles: „Du sitzt im Auto und wartest, dass die Ampel auf Grün schaltet, und plötzlich überfällt dich ein Hormonschwall und du läufst heiß.“ Das neu erblühte Körpergefühl können Trans*Männer in spezialisierten Tantra-Gruppen ausleben oder auch im Boiler: Berlins Schwulensauna stellt sich der neuen Sichtbarkeit von Trans*, schult ihr Personal und hat über keine negativen Reaktionen auf die neuen Fremden zu berichten. Nic und seine Trans*Kumpels schätzen diese Akzeptanz in der Szene, teils um als Beobachter den eigenen Voyeurismus zu bedienen, teils um sich in den Blicken Anderer ihrer Männlichkeit zu vergewissern.

Und Gelegenheiten dazu finden sich in den schwulen Hotspots Berlins genug: Montags geht’s ins Moritz, dienstags ins 3000, mittwochs trifft man sich im Prinzknecht, Donnerstag drängelt man in die Olfe, freitags bis sonntags vertritt man sich in diversen Clubs die Füße – und all das sind nur wenige von unzähligen Möglichkeiten für Gays. Dort, zwischen prallen Shirts und gespannten Reißverschlüssen, herrscht die Illusion einer Männlichkeit, die keinem Tageslicht standhalten würde. Und in diesem Fleischgewimmel fällt auch wenig auf, dass sich der mittelalte Nic im Stimmbruch befindet. Die Jahre als Herren-Imitator helfen ihm, im nächtlichen Gerumpel der Schwulen unauffällig mitzumachen. Drag-King-Ikone Diane Torr beschrieb Geschlecht als einen Akt, als Künstlichkeit, eine Travestie – und wer hat das besser drauf als Nic, der King of Berlin?

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Nic in seiner Rolle als Nic van Dyke, die nach seiner Transition wieder auflebte (Bild: MAXIM FASHION/Adrian Nakic)

Portrait-Aufnahme von Nic: Piotr Pietrus