Mustafa Aldabbas, 30, studierte Journalismus in Damaskus. Während des Bürgerkrieges arbeitete er als Medienkoordinator für die Oppositionspartei Building the Syrian State. Wie 800.000 andere Syrer floh er 2015 nach Deutschland, und arbeitet seither u.a. für den Tagesspiegel und die taz.
Wie hast du 2011 auf den Beginn des Arabischen Frühlings in Syrien reagiert?
Ich war 23 Jahre alt, arbeitete für ein Lokalblatt und büffelte gerade Französisch für die Uni, als im Radio über erste Aufstände im Süden berichtet wurde. Noch eh ich „Es beginnt wirklich!“ denken konnte, hatten die Proteste schon Damaskus erreicht: Die nächsten Monate ging ich mit Freunden täglich auf Demos, wir rechneten mit einem politischen Wechsel wie in Libyen oder Ägypten, nur ohne all das Blutvergießen. Doch unser Präsident antwortete mit Wasserwerfern und bald auch Schusswaffen, was Al Jazeera in die Wohnzimmer live übertrug. In meiner Familie sprach niemand über die Ausschreitungen, und ich demonstrierte aus Vorsicht weit genug entfernt von meinem Viertel.
Wann erreichte die neue Situation dein Privatleben?
Als Freunde verhaftet wurden und nach Frankreich flüchteten. Es wurde zwar Anfang 2012 ein Mehrparteiensystem eingeführt und Assad durfte öffentlich kritisiert werden, doch er blieb ein Präsident, der sein Land mit Folter und Mord bedrohte. Die Menschen ließen sich nicht mundtot machen und sammelten sich wegen des Demonstrationsverbots in den Moscheen statt auf der Straße – Assad verbreite deshalb die Lüge, dass die Aufstände von Islamisten ausgingen, was vor allem die Millionen von Christen aufhorchen ließ. Auch der Konflikt zwischen Sunniten und Alawiten wurde gewalttätiger. Ausländische Medien waren längst des Landes verwiesen, die Berichterstattung war staatlich gelenkt, und Assad hatte in nur einem Jahr den Aufstand zu einem Bürgerkrieg eskalieren lassen. Es waren nicht mehr Studenten mit Plakaten und oppositionelle Bürger, die den Ton angaben, sondern plötzlich „Rebellen“ mit ausländischen Waffen.
Nach Protesten trat 2011 die syrische Regierung zurück – nicht aber Assad (Bild: ABC)
Du warst all die Zeit in Damaskus: Wie hat sich der Alltag auf der Straße in diesem einen Jahr verändert?
Zum einen war die gesamte Stadt durch ein dichtes Netz von Checkpoints nur mühsam zu passieren, zum anderen war Damaskus nach außen hin abgeschottet, um Konflikte aus den ländlichen Gebieten fernzuhalten. Ständig donnerten Kampfjets im Himmel, während aus dem Radio ununterbrochen Propaganda plärrte. In meiner Nachbarschaft hatten sich Männer, zumeist ohne Bildung und Arbeit, mit Kalaschnikows und Granaten bewaffnet: Der Krieg hatte sie mit Geld und ungewohnter Macht ausgestattet, unsere Straße war ein gefährlicher Ort geworden. Dann klingelte im Sommer 2012 mein Handy: Das gesamte Viertel war geräumt worden, alle seien auf der Flucht, und ich solle auf keinen Fall nach der Uni nach Hause kommen, warnte meine Mutter. Dann brach der Kontakt ab, und es gab für Monate kein Lebenszeichen von ihr.
Und was hast du nach diesem Telefonat getan?
Das ist bis heute für mich schwer in Worte zu fassen. Ich ließ an jenem Tag meine Abschlussarbeit liegen und versteckte mich in einem Haus ohne Wasser und Strom. Ich assistierte einem oppositionellen Journalisten von Orient News, bis dieser ermordet wurde. Ein Grenzsoldat ließ mich abführen und ich hockte für 40 Nächte in einem Keller mit 100 Nackten, darunter Kinder und Behinderte, ohne ein Verhör. Ich wusste, dass Zehntausende in Gefängnissen wie meinem ermordet wurden: Ich verlor mein Gewicht, meine Haare und die Hoffnung. Am Tag meiner Entlassung wurde ich von Milizen verschleppt, dann wollte mich das Militär für Assads Armee einziehen… Ich habe diese fünf Monate überlebt, mehr will ich dazu nicht sagen.
Wie bist du diesem Albtraum entkommen?
Meine Schwester schaffte es, mich zu sich in den Libanon zu holen. Ich saß in ihrem Auto in Richtung Beirut, das sonst nur zwei Stunden von Damaskus entfernt liegt, aber die Ausreise dauerte wegen der Barrikaden einen halben Tag, vorbei an zerbombten Städten und verschmorten Leichen am Straßenrand. Als Syrien endlich hinter mir lag, brach ich zusammen und brauchte Monate, um mich zu erholen. Aber ich zwang mich zurück ins Leben und kehrte 2013 heim nach Damaskus.
Zurück ins Kriegsgebiet, obwohl du im Libanon in Sicherheit warst?
Ich wollte zu meinen Freunden, in meine Universität und nicht diesen Irren mein Land überlassen. Ich engagierte mich bei Building the Syrian State, einer der drei anerkannten Oppositionsparteien, unter deren Schutz ich erstmals mit bürgerlichem Namen politisch agieren konnte. Ich korrespondierte mit ausländischen Journalisten, die Assad wieder einreisen ließ, und ich organisierte Konzerte, Lesungen und Ausstellungen, auch von verfolgten Künstlern wie Hani Abbas. Unsere Parteizentrale schien für Viele der einzige Ort, sich frei zu äußern, und das machte unsere Büros zum Schützengraben für Sky News Arabia und China TV, die von dort aus international berichteten. Nicht weniger aufregend als die Politik war für mich der Augenblick, als ich ein junges Paar sich auf offener Straße küssen sah. Das war ein großer Moment, aus dem ich neue Hoffnung schöpfte.
(Bild: Hani Abbas, 2013)
Wann hast du erkannt, dass du Syrien für immer verlassen musst?
Nach einem Jahr hatte sich die Situation so stark verschlechtert, dass ich fliehen musste. Assads Sicherheitskräfte wurden immer gewalttätiger, und Parteigründer Louay Hussein erklärte, dass keiner von uns mehr sicher sei. Ich verließ mein Land, dieses Mal für immer. Zurück in Beirut, stürzte ich mich in Arbeit, wollte mich gebraucht und stark fühlen, aber meine Gesundheit verschlechterte sich wieder dramatisch. Ich entschied mich, den Nahen Osten hinter mir zu lassen, und dank Amnesty International und der UN-HCR, die sich um Vertriebene kümmern, verlief meine Ausreise unkompliziert. Zwei Monate später landete mein Flugzeug in Deutschland.
Hat man dir hier geholfen, um dich zu einem von 4 Mio. Berlinern zu machen?
Man hat es zumindest versucht. Es wurde mir ein U-Bahn-Fahrplan in die Hand gedrückt, obwohl ich noch nie zuvor in einem Zug gesessen hatte. Auch ein Zettel mit Arztnummern brachte nichts, da Berliner Krankenschwestern weder Arabisch noch Englisch sprechen. Der Anfang war also sehr hart für mich, aber sobald ich Deutsch sprechen konnte, bekam ich ein Praktikum bei der taz. Derzeit arbeite ich für die Nahost-Plattform Al-Monitor und hoffe, bald an einer deutschen Uni mein abgebrochenes Studium zu beenden.
Die Herzogin von Oldenburg schlug 2016 eine Alternative für die deutsche Willkommensgesellschaft vor. (Quelle: https://bit.ly/2ENj78Y)
Gibt es denn Probleme im Umgang mit Deutschen?
Viele wollen nicht zwischen Syrien und dem Islamischen Staat unterscheiden, sie halten syrische Staatsbürger für religiöse Fanatiker. Das liegt auch daran, dass Assad geflüchtete Oppositionelle und Aktivisten wie mich als Islamisten gebrandmarkt hat. Wenn es also zu solchen Situationen kommt, erkläre ich dann, dass Syrien ein offenes Land war, in dem Jesiden neben Christen und Juden lebten und niemand gezwungen war, Moscheen zu besuchen.
Der Bürgerkrieg tobt bereits das siebte Jahr, aber auch der wird irgendwann enden. Was ist deiner Meinung nach wichtig für die Zukunft Syriens?
Mit den Rückkehrern und einem neuen Bildungssystem könnte der erste Schritt zu einem Neuanfang möglich sein. Religion und Staat müssen wieder voneinander getrennt und die Syrer an politischen Entscheidungen beteiligt werden – unter der Voraussetzung, dass freie Wahlen zu einer neuen Regierung führen. Assad hat als Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen zu werden.
Aber man darf nicht ignorieren, dass Syrien zerstört ist, nicht nur die Häuser, sondern das Miteinander. Ökonomische und religiöse Konflikte liegen offen, überall grassiert Korruption, und jeder zweite Syrer ist noch immer auf der Flucht. Viele wurden durch den Krieg reicher, der Großteil aber verlor alles. Die Oppositionsparteien bekämpfen sich untereinander, das Regime und das Militär hingegen sind weiterhin intakt. Ich halte mich daher mit Prognosen über die Zukunft zurück.
Danke, dass du deine Erfahrungen mit uns teilst. Schön, dass du hier bist!
Portrait-Aufnahmen von Mustafa: Alexander Winter