Seyran Ateş: Die Kritik der AfD ist berechtigt

Seyran Ateş, 54, wuchs in Berlin-Wedding auf. Aufgrund ihrer Warnungen vor naiver Multikulti-Politik sowie ihrer Kritik am Kopftuch in repräsentativen Ämtern oder als religiöse Pflicht ist die Anwältin ständigen Drohungen und Angriffen ausgesetzt. Im Sommer 2017 gründete Ateş die Ibn Rushd-Goethe-Moschee, in der sie ihre Idee eines reformierten Islam praktiziert. Seit elf Jahren steht sie unter Personenschutz.

Inwiefern gehört der Islam für dich zu Deutschland?

Dieser Satz ist so verbrannt wie „Leitkultur“ oder „Integration“, und es stellt sich mir immer erst die Frage, wer den Satz mit welcher Intention ausspricht. Geht es um Millionen muslimischer Gastarbeiter, Flüchtlinge oder Migranten mit deutscher Staatsangehörigkeit? Reden wir von politischer Einflussnahme, von gesellschaftlicher Aktivität oder Körperschaften des öffentlichen Rechts? Oder wird eine spezielle Ausrichtung der Religion gemeint?

Nehmen wir beispielsweise gewaltverherrlichende Salafisten: Die müssen strafrechtlich verfolgt werden. Andererseits gehören Muslime, die ihre Religion friedlich und öffentlich sichtbar ausüben, natürlich zu Deutschland. Wichtig ist, in dieser Frage keinen Rassismus zuzulassen. Nur dann kann ein Dialog stattfinden, und auch innermuslimisch debattiert werden, etwa über die Vereinbarung von Islam und Menschenrechten. Es wäre falsch, weiterhin leichtgläubig mit diesem Thema umzugehen – auch deshalb sollte man sich von diesem Schlagwort freimachen, das jede Diskussion kaputt macht.

Man sollte meinen, dass ein moderater Islam politisch und gesellschaftlich gestärkt wird – und doch begegnet man deiner Ibn Rushd-Goethe-Moschee mit Misstrauen. Wie erklärst du dir das?

Die religiösen Ausprägungen unterscheiden sich nicht nur in der Islamischen Welt stark, sondern auch im Westen: In Nordamerika ist der Islam anders als der „Euro-Islam“, wie Bassam Tibi ihn nannte. In Serbien wiederum kaufen Muslime auf dem Basar ihr Schweinefleisch und trinken Alkohol. Diese verschiedenen Realitäten spiegeln sich auch in Deutschland wider. Hier sind liberale Muslime einerseits froh über unsere Moschee, andererseits sind sie Diffamierungen durch Fundamentalisten ausgesetzt, die keine Religionsfreiheit akzeptieren. Dass die unsere Moschee nicht mögen, liegt in der Natur der Sache.

Aber weshalb will der saudische Kronprinz den Islam liberalisieren? Weil die Jungen die Nase voll haben von einer unterdrückenden Religion, die ihnen die Freiheit nimmt zu leben und zu lieben, wie und wen sie wollen. Reformen setzen sich überall durch. Millionen leben ja bereits einen liberalen Islam, auch wenn Gewalt und Macht dies zu unterdrücken versucht, selbst hier in Berlin. Denn auch die deutsche Politik will es sich mit den von ihr hofierten Konservativen nicht verderben und macht sich dadurch erpressbar. Man könnte uns als Teilnehmer der Islamkonferenz einladen, oder mit uns in Beiräten an den Instituten der theologischen Fakultäten diskutieren, doch werden immer neue Argumente gefunden, weshalb man uns nicht mit am Tisch haben will. Aber man wird irgendwann nicht mehr umhin kommen, auch uns Liberale zu unterstützen, nicht zuletzt finanziell.

Deine Mosche steht ja nicht nur allen islamischen Konfessionen offen, sondern auch Gläubigen jeden Geschlechts und jeder Sexualität. Gibt der Koran überhaupt diese Freiheit?

Frauen und Männer beten seit 1400 Jahren in Mekka gemeinsam Seite an Seite. In keiner Quelle, weder dem Koran noch den Hadithen, steht die Trennung der Geschlechter festgeschrieben – insofern sind wir koranfester als diejenigen, die das verbieten wollen. Unter dem Dach des Islam sind alle willkommen, Personen unterschiedlichster legaler Identitäten wie auch LGBTIQ*-Personen, die sich als muslimisch identifizieren. Denn Gott hat alles erschaffen, er hält seine schützende und barmherzige Hand voller Liebe über jeden, und sei es eine Regenbogenfamilie – denn am Ende geht es darum, die Familie zu schützen, die Liebe zu schützen, so wie Gott es will.

Du warst Augenzeugin des Einzugs der AfD in den Bundestag, deren Erfolg nicht zuletzt mit der Behauptung einer drohenden Islamisierung zu erklären ist. Teilst du deren Befürchtung?

Der Ruf Erdoğans an die Türken in Deutschland, nicht drei sondern fünf Kinder zu zeugen, zielt doch in diese Richtung. Auch Auslandsfinanzierungen radikaler Islamisten aus Katar, Saudi-Arabien oder der Türkei sind längst bekannt, und die Zahl der Gefährder steigt ständig an. Dabei meine ich nicht nur Attentate, sondern die Strömung, die gegen das selbstbestimmte Leben des Westens arbeitet. Kleine Kinder tragen Kopftuch, Teenager befreunden sich nicht mit Ungläubigen, Mädchen dürfen Jungs nicht berühren, Jungs verwehren ihren Lehrerinnen den Handschlag. Religiöse Auseinandersetzungen gehen soweit, dass junge Muslime sich untereinander mobben – eine selbstverständliche Folge ist dann etwa die Verbreitung von Homophobie. Auch, wenn es keinen deutschen IS geben wird, gilt: Wehret den Anfängen!

Diese Entwicklung kritisiert die AfD zurecht, aber ihre Schlussfolgerung ist falsch, indem rassistisch und islamophob argumentiert wird. Dabei teilen viele Muslime die Angst vor einer Islamisierung. Es wäre wünschenswert, wenn alle Parteien politische Lösungen anbieten würden statt immer nur die AfD zu kritisieren, denn Zuwanderung und Flüchtlinge sind Themen, denen man sich bislang verschließt. Das hat doch den europaweiten Rechtsruck erst ausgelöst: Der Erfolg von Orbán, Le Pen, Strache, Kaczyński und auch der Brexit sind ja Reaktionen auf Zuwanderung, auf die nirgends in Europa wirklich reagiert wurde. Deshalb habe ich mit Freunden die europäische Bürgerinitiative Stop Extremism gegründet: Wir sammeln Unterschriften, damit sich die EU einerseits mit Richtlinien zur Bekämpfung von Extremismus befasst, andererseits aber gemeinschaftlich mit der europaweiten Zuwanderung beschäftigt.

Und was braucht speziell Deutschland für die Zukunft?

Am dringendsten fehlt ein Werte- und Demokratieunterricht an deutschen Schulen. Wir müssen endlich anfangen, Kindern die Inhalte der Werte beizubringen, von denen wir die ganze Zeit reden, leider ohne ihnen die Bedeutung zu vermitteln. Die Schulbildung hat in diesem Punkt viel versäumt.

Seyran Ateş, wir freuen uns über dich sehr.

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Bilder: Dorothee Deiss